Laub im Frühling

 

Wir stiegen aus dem Auto aus, streckten und dehnten uns. Ich schaute mich sehr genau um, sog die frische Frühlingsluft ein, pumpte voll meine Lungen, schloss die Augen. Ich wollte nur die Luft genießen, wollte den Wald noch nicht sehen, wollte nicht wissen, ob mir jetzt schwindelte oder nicht.

Wir liefen los. Fuß vor Fuß. Erleichtert stellte ich fest, dass der Wald noch immer der gleiche Wald, der Weg immer noch der gleiche Weg war. Er führte uns zum See, der auch noch immer derselbe war. Wie oft sind wir hier schon gelaufen? Alles sah so altvertraut aus, änderte sich täglich und blieb doch gleich.

Und dennoch, die Bedenken . . .

„Ist noch frisch am Morgen“, sagte meine Mitläuferin neben mir, unterbrach damit das Schweigen.

„Aber die Luft ist schön“, antwortete ich ihr, spürte und verstand ihre Unsicherheit. „Ganz anders, als in der Klinik“, fuhr ich fort, plapperte munter drauf los, wie wir einfach so liefen, wie schon so oft. „Die Luft ist gut, tut gut.“ Einmal tief durchatmen. „Besser als in der Klinik, wo die Fenster nicht richtig zu öffnen sind, die Heizungsluft trocknet die Haut aus. Keinen Tag länger“, schnaufte ich. „Endlich wieder Zeit haben, wieder ganz da sein, ganz im Leben stehen.

„Bist heute Morgen gut in Form“, sagte sie neben mir. „Die paar Wochen Pause merkt man dir nicht an“, fuhr sie fort und beschleunigte etwas.

Ich nahm die Herausforderung an und erfreute mich am Laufen. Ich spürte meine Kraft, meinen Herzschlag. Ja, auf meinen Körper kann ich mich verlassen. Auch in der Not hat er mich nicht verlassen.

„Ist schon erstaunlich, wenn man einmal den Körper aufgebaut hat, wie er dann leistungsfähig bleibt, auch wenn man ihn einmal nicht trainiert“, sagte ich zu ihr.

„Jaja“, antwortete sie.

„Willst du nicht wissen, wie es in der Klinik war?“ fragte ich, redete von Klinik und sagte nicht Irrenhaus. „Es ist drinnen normaler als man gewöhnlich denkt. Angeblich ist jeder Zehnte irgendwann mal drin oder bei einem entsprechenden Arzt.“

„Die Welt ist eben verrückt.“ Worte leicht dahin gesagt von der Läuferin neben mir, so leicht wie unsere Schritte über dem Waldboden.

„Das Ende der Zivilisation ist nah, das Ende der Menschheit. Wir verstehen die Welt nicht mehr, die wir geschaffen haben. So können wir nicht überleben. Glaub es mir.“

Ich redete, ich lief, ich lenkte ab. Ist ja richtig so. Sie hat recht. Vergessen wir die Episode. Es war nur eine Episode. Nun ist alles wieder gut. Auch das kalte Wasser überstand ich ohne körperliche Schäden.

So lief ich einfach weiter. Ich lief. Ich genoss die Stimmung im Wald am Morgen, die frische Luft. Die Sonne schien, wie an dem Tag, den ich aus meinem Gedächtnis streichen wollte. So erinnerte ich mich lieber an die vielen Runden, die wir hier um den See schon gedreht hatten. Denn das war Realität. Die Zeugin dafür lief neben mir. Das andere Ereignis hatte sich wohl nur in meinem Kopf abgespielt.

So liefen wir und liefen.

„Liegt noch viel Laub“, sagte sie. Und es traf mich, wie ein Hammerschlag direkt auf die Stirn. Jetzt sah ich es auch. Bisher hatte ich es erfolgreich übersehen. Ich wollte es nicht sehen, wollte mich nicht erinnern. Jetzt lief ich nicht mehr um den See, jetzt war ich wieder auf der Insel, wie an jenem Tag. Die Waldwege glichen sich, Laub hatte damals auf den Wegen gelegen und daneben, wo die Bäume standen. Der ganze Boden war mit toten Blättern bedeckt. Überall raschelte es. Ich dachte zuerst an Vögel, die nach Futter wühlten. Dann sah ich eine Maus. Es war eine graubraune Feldmaus. Ich erfreute mich an ihrem Anblick. Schnell huschte sie davon. Ich dachte noch daran, wie ich zuletzt eine Maus sah, zwischen den Gleisen der Untergrundbahn, mir überlegte, dass es eigentlich richtig wilde Tiere sind, nicht gezähmt und in einen Käfig gesperrt. Da sah ich schon die nächste Maus, wie sie aus dem Laub hervor kam, auf einem Ast balancierte und wieder im Laub verschwand. Ich hockte mich hin, um genauer zu sehen. Ja, ich nahm sogar einen Keks aus meiner Tasche und warf ihn vorsichtig in Richtung der Mäuse. Aber sie wollten ihn scheinbar nicht, kümmerten sich nicht um ihn. Aus Vorsicht? Oder sagte ihnen der Keks nicht zu. Ich trat etwas näher an sie heran und rechnete schon damit, sie würden sich jetzt verziehen. Aber nein, es kamen immer mehr, zeigten keine Furcht, keine Scheu. Nun beschnüffelten die Mäuse meine Gabe und verschmähten sie weiter. Ich nahm einen umher liegenden Ast zur Hand und wühlte damit etwas im Laub herum, wollte sehen, ob sich die Mäuse unter den Blättern eine eigene Welt geschaffen hatten, mit Höhlen und Gängen. Ich konnte noch nichts sehen, da roch ich schon etwas. Ein Geruch kam mir entgegen, nicht der nach modernden Laub, wie vielleicht erwartet, sondern ein stechender Gestank. Dann erst sah ich was so roch. Mit einer Bewegung des Stockes hatte ich den oberen Teil eines menschlichen Schädels freigelegt. Aus einer der beiden Augenhöhlen kroch eine Maus und sah mich an. Noch immer auf dem Boden hockend war ich wie gelähmt. Ich schaute nur und rührte mich nicht. Erst ganz allmählich kam ich wieder zur Besinnung und schob ganz langsam, noch ganz abwesend, mit dem Ast weitere Blätter fort. Ich hinterließ eine Spur im Laub, darunter eine Leiche lag. Der Mensch vor mir konnte noch nicht lange hier liegen, an einigen Stellen war die Haut nicht nur intakt, sondern noch rosig. Überall kamen nun Mäuse hervor und schauten mich an. Ich störte sie wohl bei ihrer grausigen Mahlzeit.

Wie kam der Tote hierher, wie starb er?

Überall raschelte das Laub, überall hörte ich die kleine Mäusefüßchen gehen. Ich sah mich um, da waren schon rings um mich Mäuse, da bemerkte ich die erste Maus an meinem Fuß. Mir kam ein schrecklicher Gedanke. Verschmähten sie meinen Keks, weil sie mich wollten? Ich ließ meine Tasche fallen und sprang auf, verlor mein Gleichgewicht, kam ins Trudeln, wäre fast gestürzt. Da erschraken die Mäuse kurz, kamen gleich wieder näher. Ich schaute mich um. Welcher Weg führte mich von hier fort? Angst und Panik lähmten meine Reaktion. Ich musste weg. Zum Anleger, zum Boot, zum Festland! Plötzlich kehrte in mir das Leben zurück. Ich stürzte los, rannte, rannte, was meine Beine hergaben. Überall raschelte das Laub. Ich rannte zu schnell, um die kleinen wilden Viehcher zu sehen. Mein Herz schlug schneller, schneller als ich je meine Pulsfrequenz beim Joggen hochtrieb. Ich lief und lief, immer schneller, panisch, ängstlich. Angst um mein Leben! Ich rannte um mein Leben. Ich rannte!

„Was rennst du so? Ich komme nicht mehr hinterher!“

Auf dem Weg waren schon die ersten Mäuse. Ich rannte einfach über sie hinweg. Kein Mensch war weit und breit zu sehen. Da sah ich das Wasser, meine Rettung. Mäuse können ja wohl nicht schwimmen. Meine Lungen schmerzten, als ich am Ufer ankam. Doch die Fähre war auf der anderen Seite. Trotzdem betrat ich den Steg. Da sah ich schon ein paar Mäuse auf dem Geländer. Vor Schreck drehte ich mich um, kam ins Stolpern, stürzte zu Boden. Schon stürzten die Mäuse auf mich zu. Ich versuchte sie abzuwehren. Doch es waren zu viele! Ich stand auf, richtete mich auf, wild um mich schlagend. Ich rannte wieder, denn nur das Laufen verhinderte, dass mich die Mäuse überwältigen konnten. Solange ich lief, war ich sicher vor ihnen. Aber wohin? So lief ich ohne Ziel, lief immer schneller, lief!

„Bleib doch stehen!“

Das Wasser! Ich lief vom Weg weg, aufs Ufer zu, durch das Schilf, ins Wasser, wo teilweise noch Eisreste schwammen. Ich sprang ins eiskalte Wasser, rannte panisch auf das andere Ufer zu, verlor den Halt im tieferen  Wasser, musste schwimmen, hatte noch meinen Mantel an, der mich nun behinderte. Ich versuchte ihn auszuziehen. Dabei bemerkte ich, wie ein paar Mäuse sich an ihm festhielten, sich am Mantel schon verbissen hatten. So warf ich ihn fort, tauchte ganz unter, versuchte mich dem rettenden Ufer zu nähern. Die Kälte des Wasser schien meine Schädeldecke zum Platzen zu bringen. Ich durchbrach mit meinem Kopf die Wasseroberfläche und sah drüben am anderen Ufer Menschen stehen. Sie schauten zu mir. Ich schrie wohl, ich strampelte mehr als ich schwamm. Jedoch die Eiseskälte drang durch meine Kleidung hindurch, lähmte mich mehr und mehr. Mir wurde schwarz vor Augen, ich verlor das Bewusstsein.

Als ich meine Augen wieder aufschlug, schaute ich in das Gesicht meiner Lauffreundin.

„Was ist mit mir geschehen?“ fragte ich. Sie lächelte mich an. „Du bist einfach ins Wasser gerannt“, sagte sie. Tränen traten ihr aus den Augen. Ich wandte meinen Kopf von ihr ab. Ich lag auf einer Trage, zwei Feuerwehrmänner schoben mich in den Rettungswagen. Ehe sie die Tür schlossen, sah ich noch einmal in den Wald, sah ganz deutlich, wie eine Maus im Laub saß und mich mit gierigen Augen anschaute.

Voll Grausen wandte ich mich von diesem Anblick ab, betrachtete mir den Rettungswagen, sah meine Retter an. Aber auch sie konnte ich nicht länger anschauen, wollte nicht ihre Gedanken erraten. So senkte ich meinen Blick, sah zu Boden. Was war das? War da eben der Schatten einer kleinen Maus? Ist das nicht das Tapsen einer Maus, was ich da hörte? Ich schaute genauer hin. Da! Eine kleine Maus huschte über den Boden des Rettungswagen. Ich schrie auf. Ich schloss die Augen und schrie weiter. Ich wollte mich wehren, wollte mich bewegen, spürte dabei, dass ich auf der Trage festgeschnallt war, strampelte dennoch immer mehr, gab keine Ruhe. Der Wagen setzte sich in Bewegung, wirbelte Laub auf. Mein Schreien und die Sirene wurden eins.