Neunte Szene

Edith steht am Fenster. Ein Auto fährt hupend am Haus vorbei.

Harald kommt mit einem Kuchenpaket ins Haus, klingelt bei ihr.

Edith: Warum sind Sie das letzte mal so plötzlich gegangen?

Harald: Ich habe das Buch, was Sie mir gaben, nie gelesen.

Edith: Warum denn nicht?

Harald: Ich hatte eben keine Zeit.

Edith: Ja, aber warum haben Sie es nicht einfach gesagt? - Ich, ich lese manchmal ein Buch und lese es nicht. Also am Ende der Seite weiß ich nicht, was ich eigentlich eben gelesen habe. Manchmal bin ich mir noch nicht einmal sicher, ob ich überhaupt irgendwas gelesen habe. Aber ich lese weiter.

Harald: Warum legen Sie es dann nicht weg?

Edith: Was stehen wir hier an der Tür? Gehen wir ins Zimmer!

Harald: Ich habe Kuchen mitgebracht.

Edith: Ich sehe, sagt Edith.

Harald: Und ich habe Sie gesehen, wie Sie mich gesehen haben, wie Sie das Paket hier gesehen haben.

Edith: Sie sind eben durch und durch ein Mann vom Paketdienst.

Harald: Ja! - Mögen Sie lieber Obst oder Quark, Sahne oder Sand? Ich konnte mich nicht entscheiden. So habe ich von jedem etwas genommen.

Edith: Danke!

Harald: Außerdem kennen wir uns so wenig. Eines wird Ihnen bestimmt schmecken, habe ich mir gedacht.

Edith: Und Ihnen, was schmeckt Ihnen?

Harald: Ach, ich esse alles, wenn ich hungrig bin.

Edith: Ich habe jetzt keinen Hunger.

Harald: Macht nichts. Ich auch nicht.

Edith: Wollen wir heute mit der Lesestunde anfangen?

Harald: Lassen Sie uns einfach so reden.

Edith: Gut, setzen wir uns! Worüber wollen wir reden? - Ich könnte Kaffee aufbrühen.

Harald: Ja, vielleicht etwas später.

Edith: Ja.

Harald: Was zieht Sie immer wieder an das Fenster? Sehr interessant ist die Straße ja nicht!

Edith: Es ist eben meine Straße. Hier wohne ich.

Harald: Und wollen wissen, was da draußen geschieht!

Edith: Ja. Ich weiß welcher Ast an dem Baum dort dieses Jahr gewachsen ist, welches Nest in diesem Jahr für ein Paar Tauben zur Aufzucht ihrer Jungen diente. Ich sah, wie die Tauben sich gegen die Angriffe von Krähen zur Wehr setzten und doch ihr Kind verloren.

Harald: Ich mag Tauben nicht.

Edith: Ich auch nicht. Aber sie leben nun einmal in dieser Straße. Ich beobachte sie und vielleicht beobachten sie auch mich.

Harald: Und wen beobachten Sie noch?

Edith: Wer?

Harald: Nicht die Tauben!

Edith: Dieses und jenes. Sie geht zum Regal, holt das Buch. Bitte! Nehmen Sie es.

Harald: Danke! Ich verspreche Ihnen, diesmal werde ich es lesen.

Edith: Es ist egal, ob Sie es lesen oder nicht. Nehmen Sie es, stellen Sie es sich ins Regal und schauen Sie es von Zeit zu Zeit an.

Harald: Ja, das werde ich tun! Es ist Zeit. Ich muß jetzt gehen!

Edith: Ja.

Harald: Danke!

Edith: Wofür?

Harald: Für das Buch.

Edith: Es ist ein Geschenk! Zu gewissen Anlässen schenken sich Menschen etwas.

Harald: Ich habe aber nicht Geburtstag!

Edith: Das weiß ich.

Harald: Woher?

Edith: Manches weiß man eben einfach so!

Harald geht zur Tür.

Harald: Dann . . . Ich . . .

Edith: Ich weiß.

Harald: Was?

Edith: Wir werden uns nicht wiedersehen.

Harald: Also. Alles Gute!

Edith: Alles Gute!

Harald: Danke noch einmal! Ich gehe dann jetzt.

Edith: Ja.